Page 31 - Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern, Oktober-Ausgabe 2025
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     FÜR SIE GELESEN
                              Schnee von gestern,          Das Werk endet mit einer Erinnerung an den großen Erzähler
                              Schnee von morgen            Adalbert Stifter (1805-1868). Handke bettet den Ausgang von
                                                           dessen Erzählung „Der Hochwald“ fast wortgenau in sein Werk
                              Das Lautwerden des einen Kreuz   ein: „Und vorher, oder auch nachher noch, sah man ihn, wenn
                              – und Quer – Gehenden zeit   auch wie ein Schemen, ein ums andere Mal quer über die Steppe
                              seines jeweiligen Innehaltens  stolpern, aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging,
                              Peter Handke
                                                           und eine, wo er nicht mehr ging.“ (S. 74)
                              Taschenbuch, 74 Seiten       Hier begegnen sich zwei bedeutende Österreicher. Diese litera-
                              1. Auflage 2025              risch-geistige  Verwandtschaft  steht  jenseits  aller  messbaren
                              Suhrkamp Verlag AG, Berlin 2025  Zeit.
                              ISBN: 978-3-518-43225-3; 20 €  Das erzählende Alterswerk von Peter Handke hat einen eigenen
                                                           Rhythmus des Denkens und Schreibens und wird sicher auch
                                                           eine interessierte Leserschaft finden.
                                                           Bei allem Respekt vor einem Literatur-Nobelpreisträger, muss
      Der berühmte Österreicher, Schriftsteller und Literatur-Nobel-  auch Kritisches geäußert werden.
      preisträger Peter Handke (Jahrgang 1942) legt hier ein monolo-  Manche seiner Gedankensprünge sind kaum zu verstehen. Eini-
      gisches Bühnenstück vor.                             ge Textstellen werden unbeholfen formuliert und sind prak-
      Der unter der Bezeichnung Spätwerk fallende Prosatext ist   tisch sinnlos.
      wohl eine Art Abschiedswerk, ein schmales Taschenbuch mit 74   Eigentlich ist doch das Wesen der Weisheit die Einfachheit. Und:
      Seiten.                                              Gut geschrieben ist auch immer gut gedacht.
      Der Text ist in kurze, selten mehr als zweiseitige Abschnitte auf-  Empfehlung: Man sollte langsam lesen, gedanklich mitgehen
      geteilt; auffallend ist, dass die Fragezeichen einen hohen Anteil   und die Bereitschaft mitbringen, sich auf die Hin- und Her-Re-
      unter den Satzzeichen einnehmen und nur noch durch das   flexionen einzulassen.
      Komma überboten werden. So ist der Leserhythmus in man-                            Prof. H. H. Büttner, Wismar
      chen Passagen stakkatoartig.
      Ein namenloser, einsamer Ich-Erzählter streift durch die Land-
      schaft und erkundet wandernd die Gegend. Er steht am Rand,
      sieht das scheinbar Nebensächliche, Flüchtige und schreibt sich               Das Licht an
      selbst im großen Weltgefüge eine Randposition zu. Alles strömt                dunklen Tagen
      auf ihn ein, auf diesen „Kreuz- und Quergeher“, wie er sich selbst
      nennt, alles wird unbewusst und gleichberechtigt aufgenom-                    Wie meine kleine Tochter
      men. So entsteht eine Verwandlung der Welt in Sprache, ein                    unheilbar erkrankte – und wir
      ständiges  Hin-  und  Herflackern  zwischen  Beobachtung  und                 als Familie trotz allem nicht
      Reflexion. Dabei bespiegelt sich der Erzähler unablässig selbst.              aufgaben
                                                                                    Julia Dettmer
      Wenige Details:
      Der Begriff von Heimat und Zuhause wird eingehend reflektiert                 Heyne Verlag
      und reicht hinein ins Metaphysische: „Wo steht dein Haus? Mein                Paperback, 256 Seiten,
      Haus, es steht im Freien.“ (S. 57)                                            ISBN: 978-3-453-60714-9; 16 €
      Mehrere vom Erzähler aufgestellte elfte Gebote ziehen sich wie
      Refrains durch das Buch: „Und wieder so ein elftes Gebot: Unwill-
      kürlich beteiligt sein.“ (S. 18)
      Natürlich finden sich auch humorvolle Bemerkungen, wie z.B.   Es gibt ja eine ganze Literatursparte für „Leidensliteratur“ über
      „Und wozu deine ewige Körperertüchtigung? Um die Strapazen   bedauernswerte Schicksale, fiese Erkrankungen und andere,
      des Paradieses zu überstehen.“ (S. 26) Mittlerweile hat Handke   teils reißerisch verfasste Werke, deren Lektüre einen schon vo-
      die 80er Marke im Lebensalter überschritten und ihm wird die   yeuristischen Geruch verströmt. Dieses frisch erschienene
      Begrenztheit des Daseins bewusst. Die Natur, sie rückt fern und   Buch gehört nicht dazu.  „Das Licht an dunklen Tagen“ be-
      ferner, „aber je ferner sie rückt, und je mehr sie entrückt, desto   schreibt sehr berührend das Schicksal der kleinen Amalia. Das
      näher kommt sie, unverhofft - unverhofft kommt oft.“ (S. 23)  zweite Kind der Journalistin Julia Dettmer leidet an einer selte-
      AUSGABE 10/2025 35. JAHRGANG                                                                          Seite 351





