Page 5 - Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern, Oktober-Ausgabe 2024
P. 5
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Blutungsneigung:
Abklärung in der Arztpraxis
Michael Steiner, Beate Krammer-Steiner
Die Hämostase (Blutstillung) als biologischer Balanceakt Anamnese
ist die Umwandlung eines löslichen Plasmaproteins
(Fibrinogen) in ein unlösliches (Fibrin) am richtigen Ort Die Selbsteinschätzung einer intakten oder eingeschränkten
zum richtigen Zeitpunkt, so dass die Wundheilung mit Blutstillung durch den Patienten ist schlecht und sollte im
dem Ziel der Wiederherstellung der Gefäßintegrität ein- Gespräch ausführlich und um Objektivität bemüht erfolgen.
setzen kann. Alles davon Abweichende kann zu einer Blu- Ziel ist es, die Wahrscheinlichkeit einer vorliegenden Hämo-
tung (ungenügende Blutstillung) bzw. zu einer Thrombo- stasestörung abzuschätzen und die Bewertung von patholo-
se (Blutstillung zum falschen Zeitpunkt und/oder am gischen Laboruntersuchungen zu gewährleisten. Gezielte
falschen Ort) führen. Zahlreiche gerinnungshemmende Fragen zu Blutungsereignissen sollten einschließen:
und gerinnungsfördernde Teilsysteme und Einzelfakto-
ren machen die Komplexität der Hämostase aus, so dass ■ Hautblutungen (Häufigkeit, Lokalisation, Ausdehnung);
der Einstieg in die hier zu besprechende Abklärung einer milde Form mit gelegentlichen kleinen Ekchymosen an
Blutungsneigung in der Arztpraxis klinisch gewählt wer- den Extremitäten (easy bruising); ausgeprägte Form mit
den sollte. häufigen, multiplen Suffusionen ohne Trigger (Bagatell-
trauma o.ä.); Blutungsereignisse am Körperstamm; Hä-
matomneigung ohne bzw. nach geringen Traumata; pete-
Spontane Blutungen sind mit Ausnahme der Menstruations- chiale Hautblutungen
blutung immer pathologisch und führen Patienten regelmä- ■ Nasenbluten (Häufigkeit, Dauer, Saisonalität); bekannte
ßig aus eigener Veranlassung oder mit der konsiliarischen lokale Ursachen; Behandlungsanamnese (Tamponade
Anfrage „Abklärung einer Blutungsneigung“ in die Praxis. o.ä.); pathologisch bei mehr als einem Ereignis über 30
min. Dauer in zwei Monaten
Die Abklärung sollte ein strukturierter und mehrstufiger Pro- ■ Mundhöhle (spontane Zahnfleischblutungen); zahnärzt-
zess sein und beginnt mit einer vollständigen Eigen- und Fa- liche/kieferchirurgische Eingriffe mit Blutungskomplika-
milienanamnese und der detaillierten Erhebung und Doku- tionen
mentation aller Blutungsereignisse. Akute und chronische ■ Blutungen nach kleinen Verletzungen (Wechsel durchblu-
Begleiterkrankungen haben oft einen Bezug zur Blutungs- teter Pflaster/Verbände auf Wunden)
neigung und sind für die Gesamtbeurteilung bedeutsam ■ Gelenk-, Muskel- bzw. Weichteilblutungen ohne Zusam-
(System- und Organerkrankungen), ebenso Blutungskompli- menhang zu einem adäquaten Trauma bedürfen sorgfäl-
kationen, Transfusionsbedarf, Revisionseingriffe und ver- tiger Beurteilung, da ggf. ein Hinweis auf eine Hämophi-
zögerte Entlassungen nach operativen und interventionellen lie A (Faktor VIII-Mangel) oder Hämophilie B (Faktor IX-
Behandlungen. Eine vollständige Medikationsanamnese Mangel) vorliegt
ist zwingend. Die körperliche Untersuchung kann Hinweise ■ Gastrointestinale bzw. urogenitale Blutungen ohne iden-
auf bestehende Blutungsereignisse geben, anderenfalls wird tifizierte lokale Ursache (z.B. Hämorrhoiden)
man hier auf die Patientenschilderung angewiesen sein. ■ Menstruationsanamnese (Dauer der Menstruationsblu-
tung, Anzahl der Tage mit starker Blutung, Wechselhäu-
Nach der initialen Gesamtbeurteilung schließen sich zielge- figkeit der Hygieneartikel)
richtete Laboruntersuchungen an, die aus einer großen An- ■ Blutungen bei/nach operativen bzw. interventionellen
zahl möglicher Labortests zur Überprüfung der Hämostase Behandlungen
ausgewählt werden müssen. ■ Medikationsplan (Gerinnungshemmende Medikamente
AUSGABE 10/2024 34. JAHRGANG Seite 361